Ein Jagderlebnis mit Nachtsichtgerät
17.09.2012
Ich sitze seit geraumer Zeit auf dem Hochsitz, es ist bereits dunkel und im Wald kehrt Ruhe ein, es geht kaum eine Luft aber der Augwind trägt doch den Geruch des Malbaumes zu mir herüber. Obwohl sich meine Augen gut an die Dunkelheit gewöhnt haben, ist die Sicht ohne den aufgegangenen Mond miserabel. Wie soll man bei dieser Dunkelheit im Wald ein Schwein denn überhaupt sehen? Wie soll ich durch mein altes Zielfernrohr überhaupt meinen betagten Drilling auf das Ziel ausrichten? Gemach, hab Geduld, der Mond wird’s richten - es hat seit Menschengedenken so funktioniert! Zwar hat auch die Technik in die Jagd Einzug gehalten, aber wir arbeiten nach alten Handwerksregeln, nach Erfahrungen, die einer dem anderen von Generation zu Generation weiter gegeben hat. Unser Lehrprinz ist einer der Besten und er lehrt uns die ordentliche, konventionelle, waidgerechte Jagd. Mit der Modernisierung, der Weiterentwicklung der Technik, geht häufig eine Bequemlichkeit einher, die vorhandenes, altes Wissen der Menschheit in den Hintergrund drängt, bis diese schließlich vergessen wird.
Ich sitze und lehne mich nach vorn und stütze mein Kinn auf meine Hände, atme die Frische der Nacht, sehe in die Dunkelheit hinaus, lausche dem Wald und denke nach:
Wie wär das mit einer modernen Waffe? Nicht so ein altmodisches, mechanisches Werkzeug, das sich praktisch seit ein paar Hundert Jahren nicht mehr grundlegend verändert hat. 1870 waren die Konstruktionen schon derart ausgereift, dass sie sich nur durch Feinheiten und Modeerscheinungen von heutigen Jagdwaffen unterscheiden. Eine Waffe mit elektronischer Zündung müsste es sein. So schaufelte ich gleichzeitig drei Kugeln hintereinander in den Lauf, bevor die erste den Lauf verlässt. So schnell kann man gar nicht wackeln, wie da ein paar Kugeln ins gleiche Loch schlagen. Ein Maschinengewehr ist ein altes Eisen gegen diese moderne Technik. Damit könnte man die Schweine strecken! Eine ganze Rotte mit einmal Drücken – alle ausgelöscht, zerschossen, mehr Abfall als gesundes, erstklassiges Nahrungsmittel. Ich sehe die gemeuchelte Rotte vor mir und es läuft mir schaudernd den Rücken herunter – nein, für die Jagd gibt es nichts besseres als ein Gewehr, das genau ein Loch an der richtigen Stelle stanzt!
Wie wäre das hier mit einem Nachtsichtgerät? Überall wird darüber diskutiert, als könnte es alle Probleme der Jagd und der Landwirtschaft lösen. Ich könnte völlig unabhängig vom Mond hier sitzen, der Mondkalender und die Wolken am Himmel wären bedeutungslos. Nur Bodennebel hielte mich vom Schwein ab und durch den würde ich mit einer Wärmebildkamera auch noch hindurchsehen. Aber dann müsste ich hier vielleicht sitzen, ich würde altes Wissen verlieren, ich würde den Mond und die Natur missachten. Ich würde hier sitzen wie der Schärge, den man rausgeschickt hat, die Schweine zu dezimieren – nein danke, ich bin ein stolzer Jäger!
Wie wäre das mit einem Saufang? Dann würde ich nicht hier sitzen und in die Nacht schauen – ich würde einfach kommen und sehen ob die Falle zu ist, die Sau oder auch mehrere würden erschossen werden, wir würden vielleicht zu mehreren kommen und die Schweine einsammeln. Damit wir nicht vergeblich zur Falle kämen, machten wir einen Fernmelder oder eine Kamera an den Eingang und könnten so von zu Hause am Schreibtisch, am Computer, schon sehen was uns an der Falle erwartet – pfui Deibel, auf so ein Gemetzel möchte ich gerne verzichten, vermutlich wäre mir zu Hause schon speiübel von dem Gedanken, dass ich nur noch mit Widerwillen zur Falle ginge und vermutlich jedesmal hoffen würde, dass sie leer sei.
Das könnten wir doch auch subtiler machen, so dass die Bilder sauber wären, die Gemüter beruhigt und die Öffentlichkeit nicht durch das Blut aufgeschreckt würde. Wir wendeten neue gentechnische Waffen auf die Schweine an. Sie bekämen eine Substanz in den Fraß und jede zweite würde einfach tot umfallen. Oder wir fütterten Sie mit Hormonen, die Antibabypille für das Wildschwein. Das könnte dann ein kommunaler Angestellter ausbringen und die Jäger wären überflüssig. Mit dem Stoffkreislauf bekämen wir dann die Quittung indem wir uns selber weiter vergifteten oder wir würden die Schweine wie Abfall entsorgen. Wir würden die älteste Tradition der Menschheit aufgeben und damit unsere Identität verlieren!
Ich kann mich mit alldem nicht identifizieren und bin froh und dankbar, dass ich mit meiner betagten, spartanischen Ausrüstung und einer Teekanne hier sitze und in die Mondnacht hinausdenke. Ich freue mich hier zu sein, auch wenn heute wieder nichts passiert, denn ich weiß dass ich mit gutem Gewissen und frohen Mutes hier jagen darf – so wie alle Generationen schon vor mir. Ich nehme für einen kleinen Augenblick der Geschichte den Platz des Jägers ein und erfülle meine Aufgabe.
Inzwischen ist der Mond, mein Nachtsichtgerät, da und spiegelt das Sonnenlicht notdürftig in den Wald. Die beleuchteten Bäume werfen Schatten, es entstehen dunkle und helle Stellen im Wald. Der Mond ist ein schlechter Ersatz für die Sonne, aber er gibt sich redliche Mühe heute.
Huh Su, wahr too, hab acht! Es zieht vor mir hurtig ein Tier heran, ich kann nur vernehmen wie es raschelt und knackt. Ich denke an ein Schwein, ich bin hellwach, das Stammhirn versetzt meinen ganzen Körper in Alarmbereitschaft. Mein Herz pumpt kräftig und so laut, dass ich mir Sorgen mache, dass es das Tier vernehmen könnte. Das Blut schießt durch meine Adern und jede Körperzelle ist in Bruchteilen von Sekunden auf den Angriff vorbereitet. Jetzt bin ich das Raubtier, so wie die Jäger zu allen Zeiten, zu allen Generationen vor mir. Ich spüre deutlich dass ich lebe! Endlich schaltet sich das Großhirn ein und sagt allen, dass sie sich wieder beruhigen können, denn so kann man nicht schießen. Es funktioniert, ich kann meinen Herzschlag kontrollieren und stiere hinaus in die Nacht. Ich sehe und höre jetzt mindestens doppelt so gut wie gewöhnlich und erahne dennoch mehr, als dass ich sehe. Dort wo es raschelt, ist da nicht ein schwarzer Schatten vor mir?
Ich nehme das Fernglas und sehe, dass der schwarze Schatten Lauscher und ein Gebrech hat – eindeutig, es ist eine wilde Sau. Ein leiser Anflug von Zweifel kommt in mir hoch und ich frage mich ob man bei solchen Lichtverhältnissen überhaupt zur Jagd gehen sollte. Das hast Du vorher gewusst und schon lange entschieden, du bist hier um Beute zu machen, wenn nicht dieses Schwein, welches dann? Ich greife die Waffe, der Finger gleitet sicherheitshalber noch einmal über die Kimme, die anzeigt, dass die Kugel als erste den Lauf verlässt. Ich schiebe das Schießgewehr ungefähr in die Richtung der Sau und blicke angestrengt durch das Zeiss Diavari 1,5-6x32. Welche Vergrößerung eingestellt ist, weiß ich nicht. Ich hatte zuvor einfach solange hin und her gedreht, bis sich die maximale Helligkeit eingestellt hatte. Mein Drilling ist mit der Kugel und zwei Flintenlaufgeschossen jetzt so gefährlich wie eine Handgranate und ich nehme zum Gruß drei Finger an die Stirn, damit der Scharfrand von meinem Zielfernrohr mir das Auge nicht ausstanzt. Ich gehe in Gedanken die Mechanik der Schießmaschine und den dazu notwendigen Bewegungsablauf durch, um zur Not mehrmals zu schießen. Alles was ich mir zuvor schon in Gedanken hundertmal durchexerziert habe läuft jetzt zum Glück völlig automatisch ab. Jetzt finde ich mit dem Zielfernrohr das schwarze Schwein im schwarzen Schatten der schwarzen Bäume und entsichere die Waffe. Ich suche den Vorderlauf und steche ein. Das Schwein steht spitz von hinten zu mir und ich stelle mir mehr vor wie ein Schwein aussieht als dass ich es wirklich sehe. Mein ganzes Ich ist so auf das Schwein konzentriert, dass ich sein Herz sehen kann. Jetzt meine ich an der richtigen Stelle zu sein – Brabomm - mein Dreirohr spuckt Feuer und Blei!
Im Feuerstrahl sehe ich noch wie die Sau nach links geht. Ich denke für das linke Rohr „links hoch“, habe den Finger schon am hinteren Abzug und bin für einen massiven Nachschlag bereit aber das Feuer hat mich geblendet, es ist dunkel, so ist es sinnlos weiter zu drücken. Es raschelt aus Richtung 10 Uhr noch ein bisschen, dann ist es wieder still im Wald, es riecht ein wenig nach Schießpulver. Es hat sich nicht angehört als würde sich das Geräusch in der Ferne verloren haben. All das läuft in einem kurzen Augenblick ab. Die Welt hat für einen Bruchteil einer Sekunde den Atem angehalten, ist still gestanden, damit das Schicksal seinen Lauf nehmen kann. Monate oder gar Jahre des Lebens sind auf einen Augenblick verdichtet. Ich habe der Sau das Blei angetragen und bin guter Dinge, denn ich habe mein Bestes gegeben.
Nachdem ich langsam meine Jagdtasche gepackt habe, baume ich ab und greife mein Horn. Mein Kamerad sitzt an anderer Stelle im Wald und ich will ihn zur Hilfe holen. Ich überlege, ob ich „Helft bin in Not“ blase, aber wenn es der Förster hört, könnte ihn das beunruhigen, denn er kennt die Signale und ich würde ihn so mitten in der Nacht aus dem Bett scheuchen. So blase ich also ein paarmal Hifft, wie das vor über 400 Jahren schon bei Fouilloux beschrieben war. Irgendwann, nachdem er gemerkt hat, dass es keine Alarmanlage eines Autos ist, die ihn da herbeiruft, kommt er daher: „Und?“ Ein Wort das alles beinhaltet und auf das ich knapp antworte: „Sau beschossen!“ Wir gehen gemeinsam zum Anschuss. Soweit wir das mit der Taschenlampe beurteilen können, ist der Schweiß hellrot, hat weiße Punkte und keine Knochensplitter – die 7x57 kann so schlecht nicht sitzen. Wir finden in Fluchtrichtung weitere Schweißtropfen, die wir in der Dickung aus Farnen und allem möglichen Verhau verlieren. Es ist uns klar, wenn das Schwein verletzt ist, hat es nichts mehr zu verlieren – im Gegensatz zu uns. Wir meiden daher die Dickung, umschlagen sie, tasten uns von einem Baum zum nächsten, um Deckung bei einem Angriff zu haben, bleiben nebeneinander um uns nicht gegenseitig zu erschießen. Im Schein der Taschenlampen sieht jeder größere Stein oder Baumstumpf in der Nacht aus wie eine grobe Sau. Wir müssen vorläufig abrücken, denn es ist zu gefährlich auf kurze Distanz auf ein vielleicht angebleites Schwein zu treffen.
Ich bin in Sorge: Soviel Arbeit meiner Kameraden der letzten Wochen und ich könnte es versaut haben, das Schwein ist hier irgendwo und wir können es in der Dunkelheit nicht finden. Wir diskutieren bei der Heimfahrt über die Jagd im allgemeinen und natürlich über die Schweine im Besonderen. Zwei Stunden Schlaf müssen diese Nacht reichen. Jetzt, bei Tagesanbruch stehen wir zu dritt mit zwei Schweißhunden wieder am Anschuss. Wir haben unseren Meister und Lehrprinzen hinzugezogen. Der ältere Schweißhund ist heute entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten lammfromm und folgt jetzt seinem Herrn auf jeden Augenschlag - endlich wieder Arbeit. Aber aus der Nachsuche wird leider nichts, denn der junge Hund hat das tote Schwein schon gefunden bevor es richtig los gehen soll. 30 Gänge vom Anschuss entfernt liegt es in den Farnen, wir sind in der Nacht nur wenige Schritt daran vorbei gegangen und konnten es nicht finden.
Beim Aufbrechen bin ich schon wieder zu Scherzen aufgelegt und meine Laune hebt sich deutlich als ich sicher bin, dass wir unsere Arbeit ordentlich gemacht haben: Die Kugel hat die Lunge zerrissen und das Herz oben abgetrennt, es liegt lose in der Kammer, auf der gegenüberliegenden Seite ist der Oberarmknochen glatt ab – besser hätte der Schuss auch am Tage nicht sein können. Das Tier hat gut gelebt, ist schnell gestorben und nährt uns eine Weile, es gibt uns Kraft und lebt in uns weiter – ich bin froh und erleichtert. Wir bergen die Beute gemeinsam und der junge Hund zieht jetzt mutig am Lauf der Sau mit.
Mit jedem Braten werden die Bilder wieder präsent sein und das Jagderlebnis aufs neue auffrischen. Ich werde mich mit meinen Jagdfreunden zusammensetzen, wir werden auf das gemeinsame Erlebnis anstoßen, ein Stück vom Schwein essen und uns über die wirklich wichtigen Dinge im Leben unterhalten – nein, ich möchte nicht von einem Schwein essen, das ein Leben lang brutal in einem Gitter gemästet wurde, in dem es sich nicht einmal umdrehen konnte.
Wenn wir Zufriedenheit finden wollen, so braucht es die Knappheit und die Befriedigung unserer Primärbedürfnisse durch Anstrengung. In einer Welt, in der alles unmittelbar zur Verfügung steht, werden auch die Bedürfnisse unmittelbar befriedigt. Wir sind dadurch von Zufriedenheit weiter entfernt denn je. Wo der natürliche Mangel abhanden gekommen ist, kann nur der bewusste, persönliche Verzicht, die Bescheidenheit, zur Zufriedenheit führen. Schösse ich jedesmal ein Schwein, so wäre ich damit sicherlich unzufrieden. Nein, es ist nicht das Glück der größten Zahl. Nein, ich möchte bestimmt kein Nachtsichtgerät und ich möchte auch nicht all die anderen Möglichkeiten nutzen, welche die moderne Welt für die Jagd bereit hält. Sie würden mir letztlich meine Erlebnisse und meine Identität rauben. Solange die Jagd nach überlieferter Tradition abgehalten wird, solange lebt der alte Mensch – es lebe die waidgerechte Jagd!
Bm 9/10
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